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«Ich stelle hier ein Objekt vor, das im Rahmen meines aktuellen, vom SNF geförderten Forschungsprojekts zur Materialität mittelalterlicher Buchkunst einen besonderen Stellenwert einnimmt: das sogenannte ‹Lindauer Evangeliar›.
Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, dieses sakrale, in eine prächtige Hülle eingebundene Buch in der New Yorker Pierpont Morgan Library zu untersuchen. Das bis dahin ungelöste Rätsel seiner Entstehung und frühen Verwendung hat mich sofort in Bann geschlagen. Den einzelnen Spuren nachzugehen, die das Buch im Lauf der Jahrhunderte hinterlassen hat, erforderte fast detektivische Fähigkeiten. Denn das ‹Lindauer Evangeliar› ist aus Teilen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammengesetzt. Während der Vorderdeckel, ein aus Goldblech gefertigtes Bild mit kostbarer Edelsteinrahmung, das die Kreuzigung Christi zeigt, um 870 im Westfränkischen Reich entstand, wurde der ornamentale Rückdeckel bereits ein Jahrhundert früher im östlichen Alpenraum gefertigt. Die Innenseiten der beiden Buchdeckel sind mit bunt gemusterten Seidenstoffen islamischer Herkunft überzogen. Die Evangeliarhandschrift wiederum stammt aus dem Kloster St. Gallen, wo gelehrte Benediktinermönche die einzelnen Teile schliesslich zu einem heiligen Buch verbanden.
Ähnlich spannend war es, die jüngere Vergangenheit des Evangelienbuchs zu rekonstruieren. In der frühen Neuzeit befand es sich im Damenstift Lindau am Bodensee; nach dessen Auflösung 1802 landete es auf dem Kunstmarkt – mit einer angedichteten, aber umso spektakuläreren Chronik, die eine Verbindung mit Karl dem Grossen vermuten liess und ihre Wirkung auf potente Privatsammler nicht verfehlte. Die wechselvolle Geschichte des ‹Lindauer Evangeliars› endete (vorerst), als der Unternehmer J. P. Morgan das Werk 1901 für seine Sammlung mittelalterlicher Handschriften ankaufte.»
David Ganz, Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters