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UZH Journal

«Denken, das Freiheit schafft»

Crivelli, Mai Groote und Thier im Gespräch

Die Geisteswissenschaften sind angesichts der sich rasch wandelnden Welt gefordert. Im Gespräch zur Initiative Geisteswissenschaftenmachen Tatiana Crivelli, Inga Mai Groote und Andreas Thier deutlich, was ihre Fachdisziplinen auszeichnet und die Geisteswissenschaften unersetzlich macht.

Interview: Stefan Stöcklin
 

Die Initiative Geisteswissenschaften will ihren Disziplinen mehr Sichtbarkeit geben und ihre gesellschaftliche Bedeutung hervorheben (Siehe Box am Ende des Interviews). Otfried Jarren hat mit einem «Mission Statement» die Diskussion kürzlich neu lanciert. Wieso beteiligen Sie sich an dieser Initiative? Könnten Sie das Engagement aus dem Blickwinkel Ihres Fachgebiets erläutern?

Tatiana Crivelli: Ich finde das Thema sehr wichtig und bemühe mich deshalb, innerhalb der Philosophischen Fakultät diese Diskussion voranzubringen, damit die Stärken der Geisteswissenschaften wahrgenommen werden; ich bin allerdings kein Mitglied der Arbeitsgruppe. Als Literaturwissenschaftlerin beschäftige ich mich mit Interpretation und Deutung – und diese Funktionen machen die herausragende Rolle der Geisteswissenschaften in der heutigen Gesellschaft deutlich, denn sie helfen uns in oft unerwarteter Weise, die Welt zu verstehen: Die Fähigkeit zur Interpretation und Metareflexion ist in einer komplexen Gesellschaft absolut zentral, gerade auch was sogenannte Daten und Fakten betrifft.

Inga Mai Groote: Als Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler beschäftigen wir uns mit einer ganz zentralen Hervorbringung in eigentlich allen Kulturen: Musik hat schon immer in irgendeiner Form zur menschlichen Existenz gehört. Aus Sicht der Geisteswissenschaften ist der Bereich der Künste besonders interessant, weil sich dort nonverbale, symbolische Felder eröffnen, in denen aktuelle gesellschaftliche Themen und Problemstellungen verhandelt werden können. Die Künste sind ein Bereich, in dem eine andere Form von Wissen und Verstehen stattfindet. Auf einer praktischeren Ebene versuchen wir, Erkenntnisse weiterzuvermitteln und aus der Wissenschaft hinauszutragen, in meinem Fach zum Beispiel an das Publikum, Musikerinnen und Musiker oder Veranstalter. Die Initiative Geisteswissenschaften ist eine wichtige Plattform, um genau dieses Ausstrahlen der Universität nach aussen stärker sichtbar zu machen.

 

Wieso engagieren Sie sich, Herr Thier?

Andreas Thier: Ich würde mich den beiden Kolleginnen anschliessen. Ich bin als ausgebildeter Historiker und Jurist ein Geisteswissenschaftler, der mit einem Lehrstuhl für Rechtsgeschichte und -theorie eine Art Zwischenposition besetzt, die sich in den Sozial- und den Geisteswissenschaften bewegt. Zu den eben dargelegten Funktionen der -Geisteswissenschaften möchte ich die Begriffe «Orientierungswissen» und «Freiheit» hinzufügen: Die Geisteswissenschaften schaffen dadurch, dass sie offenlegen, wie die Welt gedeutet werden kann und gedeutet wird, immer auch die Voraussetzung für Freiheit. Damit nehmen sie eine fundamentale Position ein und eröffnen uns den Blick auf Deutungen der Welt.

 

Nun sind wir in einer paradoxen Situation. Einerseits sprechen viele vom Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften, andererseits sind sie in Zeiten des Umbruchs wichtiger denn je. Sehen Sie diese Diskrepanz und falls ja, welches sind ihre Ursachen?

Crivelli: Ich möchte diese Aussage etwas relativieren: Der Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften ist eine beliebte journalistische Verkürzung, die ich nicht teile. Für mich ist dieses Narrativ – wie übrigens auch die mangelnde Sichtbarkeit, die im Statement zur Initiative Geisteswissenschaften thematisiert wird – unzutreffend.

Groote: Ich würde auch sagen, die Diskrepanz besteht nicht in der Schärfe, wie sie aus der Frage hervorgeht. Ein Bedeutungsverlust inmitten eines grossen Umbruchs ist eine beliebte Erzählung, aber sie muss ja nicht zutreffen. Stattdessen sollten wir über Themen wie Ressourcenverschiebung sprechen oder wieso gewisse Narrative, aus welchen Gründen auch immer, in den Vordergrund treten.

Thier: Zur Frage des Bedeutungsverlusts ist offensichtlich ein Diskurs entstanden, der – wie Otfried Jarren skizziert – an Fahrt gewonnen hat. Ich denke, es geht vor allem um die Faktoren, die diesen Diskurs, man könnte auch sagen diese Narration, getrieben haben. Dahinter steckt der fundamentale technische Wandel, Stichwort «industrielle Revolution 4.0», das «Internet der Dinge» oder, generell gesprochen, die Digitalisierung, die uns vor neue Herausforderungen stellt. Dazu kommt als weiterer Faktor die Globalisierung, die verschiedene Welten enger zusammenrücken lässt. Dadurch haben sich typische Bezugspunkte der Geisteswissenschaften ein Stück weit verändert, das traditionelle Bildungs- und Kulturgut scheint eine geringere Rolle zu spielen als früher, zum Beispiel die lateinische Sprache.

Groote: Gerade solche Debatten sind ja den Geisteswissenschaften inhärent und finden laufend statt. Dass zum Beispiel darüber diskutiert wird, welchen Stellenwert konkret das Beherrschen lateinischer Verse in Zeiten des Musikstreamings hat, heisst ja nicht, dass dadurch das methodische Potenzial der Geisteswissenschaften an sich geschmälert würde. Deshalb sollte deutlich zwischen innerfachlichen Diskussionen und Leitfragen grundsätzlicher Art unterschieden werden.

 

Sind Sie manchmal neidisch auf ihre Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel in der Medizin oder Epidemiologie, die gerade jetzt in der Corona-Krise medial sehr präsent sind? 

Crivelli: Es ist klar, dass die medizinischen Wissenschaften in der Bewältigung der Krise eine prominente Rolle haben und haben müssen. Genauso notwendig ist es aber auch, eine längerfristige historische, gesellschaftliche und kulturelle Perspektive über die Pandemie zu gewinnen. Eine Perspektive, die das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt – der Natur und Technik – umfasst. Hier kommen die Geisteswissenschaften und ihre Kompetenzen ins Spiel.

Thier: Sie haben gesagt, dass wir neidisch auf die Mediziner blicken würden. Nein – in erster Linie bin ich den Ärztinnen und Ärzten und den Pflegerinnen und Pflegern dankbar. Aber sie decken nur einen Aspekt dieser Welt ab, da bin ich mit meiner Kollegin einig. Schon bei den Impfstoffen ergibt sich eine erste Schnittstelle zu Themen, um die es in den Geisteswissenschaften geht, nämlich zur Ethik und zur Frage der Priorisierung, das heisst dazu, an wen die Vakzine mit welcher Priorität verteilt werden. Das kann die Medizin nicht allein entscheiden. Überhaupt ist Corona ein derart komplexes Phänomen, dass die Geisteswissenschaften in ihrer Rolle als Deutungs- und Interpretationswissenschaften in fast allen Bereichen gefordert sind.

Groote: Ein kleiner Hinweis am Rande: Interessanterweise hat sich «Die Pest» von Albert Camus im letzten Jahr ausserordentlich gut verkauft. Nicht ohne Grund erwarten viele Menschen von einem literarischen Text einen anderen Blickwinkel auf Corona – und das schliesst sich nahtlos an das an, was mein Kollege eben gesagt hat. Gerade diese Möglichkeit, Dinge anders zu denken, zeichnet die Geisteswissenschaften aus.

 

Niemand bestreitet, dass die Geisteswissenschaften zum Verständnis der aktuellen Situation beitragen können, doch sie sind in der öffentlichen Diskussion weniger präsent – oder?

Crivelli: Im Gegenteil: Ich finde, dass wir in einem sehr engen Dialog mit der Öffentlichkeit stehen. Nur sind die Geisteswissenschaften und ihre Beiträge sehr divers, was es verunmöglicht, uns auf eine einheitliche Disziplin zu reduzieren. Paradoxerweise ist aber genau das der entscheidende Punkt! Die Diversität ist unsere Stärke: Sie gibt uns die Mittel, jede Komplexität zu verstehen und zu deuten.

Groote: Die inter- oder transdisziplinäre Zusammenarbeit ist ein vereinheitlichendes Element der Geisteswissenschaften. Dieser Austausch, dieses Reflektieren und Neubeleuchten basiert auf dem Verbund unterschiedlicher Stimmen. Ich möchte ergänzend hinzufügen, dass auch die Naturwissenschaften bei Weitem kein homogener Block sind. Im Moment haben zwar Impfstoffforscher und Epidemiologen eine gros-se Reichweite, aber andere Naturwissenschaften nicht unbedingt in gleichem Mass. Auch da besteht eine grosse Vielfalt.

 

Es gibt auch in Ihren Kreisen Stimmen, die für mehr Empirie plädieren, das heisst für Erfahrungswissen auf Basis von ­Studien. Eine Entwicklung, die sich in den Sozialwissenschaften gut beobachten lässt. Sollten auch die Geisteswissenschaften diesen Weg gehen?

Crivelli: Ich halte das für problematisch. Im Übrigen arbeiten auch wir nicht ohne Evidenz, sondern mit Quellenmaterial und überprüfbaren Daten. Wir sind sehr flexibel, auch hinsichtlich der Methoden. Aber wie gesagt sind Daten und Fakten nicht das Ganze, es geht darum, wie wir sie interpretieren. Wer kann sagen, dass das Erfahrungswissen, dem wir in einer fiktionalen Welt begegnen, weniger wichtig sei als Erkenntnisse, die auf quantifizierenden Vorgehensweisen beruhen? Wie gesagt: Daten und Fakten sind nicht das Ganze, wichtig ist die Interpretation.

Groote: Ich bin der gleichen Meinung. Man darf Empirie nicht in einem zu engen Sinn verstehen, es gibt verschiedene Interpretationen, und gerade in den Geschichts- oder Literaturwissenschaften arbeitet man mit erfahrbaren Hervorbringungen, also auch einer Art von Empirie. Dass man neue Untersuchungstechniken einsetzt, ist eine Option. Die Forschenden müssen für sich abwägen, inwiefern das einen methodischen Mehrwert hat. So verstehe ich auch das «Mission Statement» der Initiative Geisteswissenschaften: Postuliert wird die Pluralität von Methoden.

Thier: Ich finde es unglücklich, wenn empirische Methoden gegen hermeneutische oder interpretierende Methoden ausgespielt werden. Das ist leider, so scheint es mir, in den Sozialwissenschaften zum Teil passiert. Beides gehört zusammen, es braucht einen integralen Ansatz. Ich kann das aus eigener Erfahrung sagen. Ich habe über Steuerrechtsgeschichte promoviert und ich wäre aufgeschmissen gewesen ohne quantifizierende Methoden zur Berechnung etwa von Steuerlastverteilungen.

Groote: Da sind wir eigentlich auch wieder beim Punkt, dass es eine gewisse Reflexionsdistanz braucht. Auch bei diesen Debatten über die Methoden geht es darum, die Werkzeuge nicht als Selbstzweck einzusetzen.

 

Ist die Digitalisierung eher eine Chance oder eine Bedrohung für die Geisteswissenschaften?

Crivelli: Weder noch. Momentan würde ich eher von einem Hilfsmittel sprechen, das sich nutzbringend einsetzen lässt. In meinem Fach lassen sich zum Beispiel mit digitaler Hilfe quantitative Textforschungen einfacher durchführen. Welche Bedeutung die Technologie heute und in Zukunft haben soll, ist ein spannendes und aktuelles Forschungsthema in den Geisteswissenschaften.

Thier: Interessant ist auch ein Blick auf den Aufstieg der Digital Humanities, der vor rund zehn Jahren begonnen hat. An diesem Beispiel wird deutlich, wie sich dank der Digitalisierung in den Geisteswissenschaften eine neue Richtung entfaltet hat. Die neue Disziplin lebt natürlich davon, dass sie innerhalb und ausserhalb der Geisteswissenschaften in alle Richtungen anschlussfähig bleibt. So gesehen würde ich sagen, dass die Digitalisierung eher eine Chance darstellt und weniger ein Risiko. Vor allem aber ist sie eine Herausforderung.

 

Wie macht man die Diversität der Geisteswissenschaften innerhalb und auch ausserhalb der Universität deutlich?

Crivelli: Zum Beispiel durch Debatten, wie wir sie jetzt gerade führen. Das ist die älteste sokratische Methode des konsequenten Hinterfragens. Wie man der Öffentlichkeit die Geisteswissenschaften als tragendes Element für die Zukunft präsentiert, ist eine Frage der Mittel, der Inhalte und des politischen Willens der Gesellschaft. Darüber hinaus könnten die Geisteswissenschaften eine Kommunikationsart pflegen, die deutlicher über das, was wir machen, spricht, ohne ihre Forschungsansätze zu vereinfachen.

Groote: Ich glaube, wir haben eigentlich ganz gute Erfahrungen damit, wie wir es schaffen, uns an grössere Kreise zu wenden. Ich denke zum Beispiel an eine Ringvorlesung, die ein aktuelles Thema aufgreift und von Kolleginnen und Kollegen verschiedener Disziplinen bestritten wird. Wir sind es zudem gewohnt, in interdisziplinären Gruppen zu arbeiten und die einzelnen Stimmen in eine Polyphonie zu bringen, damit sich ein grösserer Komplex daraus bildet, der dann auch dem einzelnen Fach mehr Hörbarkeit gibt.

Thier: Wichtig ist noch ein anderer Punkt, der den Kreis zur Eingangsfrage schliesst, warum ich mich für die Initiative einsetze: Geisteswissenschaften sind ein wichtiges identitätsbildendes Merkmal von Volluniversitäten. Die UZH ist immer mit diesem Anspruch aufgetreten und sie hat diesbezüglich auch eine gesellschaftliche Verantwortung, wie dies etwa im Leitbild der UZH gesagt wird. Teil dieser Verantwortung ist es, Bildungsgut zu generieren und zu vermitteln – sowohl intern als auch extern. Für unser Wirken nach aus-sen ist es wichtig, dass wir uns mit entsprechenden Bildungsangeboten an die Öffentlichkeit wenden. Das gilt auch für unsere geisteswissenschaftliche Lehre und Forschung.

Crivelli: Ich denke, wir sollten zuerst innerhalb der Universität die Wichtigkeit unserer Vielfalt betonen und unsere Visibilität erhöhen. Die Universität kann stolz auf die Forscherinnen und Forscher unserer Disziplinen sein. Die externe Kommunikation kann ohnehin nur auf der Basis einer adäquaten internen Darstellung glaubhaft wirken.

Groote: Für die Interaktion mit der Öffentlichkeit gibt es gerade hier in Zürich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Universität: Die Stadt beherbergt viele Bibliotheken, Museen, Theater, Musik-, Literatur- und andere Kulturinstitutionen, mit denen viele von uns seit langem zusammenarbeiten. Das ist eine Win-win-Situation sowohl für unsere Disziplinen als auch die Akteure ausserhalb der Universität.

Initiative Geisteswissenschaften

Die Initiative Geisteswissenschaften ist aus der strategischen Partnerschaft der UZH mit der FU Berlin entstanden. Sie soll dazu beitragen, Kompetenzen und Funktionen der Geisteswissenschaften für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sichtbar zu machen, und richtet sich an die Öffentlichkeit. Ein Ergebnis ist die Podcast-­Serie «Geisteswissenschaften konkret», in deren Rahmen Forscherinnen und Forscher über ihr Fach und aktuelle gesellschaftliche Probleme sprechen. Im Rahmen der Initiative hat Otfried Jarren im Herbst 2020 ein «Mission Statement» zur Diskussion gestellt. An der UZH hat sich eine Arbeitsgruppe von Forscherinnen und Forschern ­formiert, welche die Ideen der Initiative aufgenommen haben und verschiedene Angebote erarbeiten. Ein Steuerungsausschuss steht der Arbeitsgruppe, die allen ­Interessierten offensteht, zur Seite. Geplant sind unter anderem eine Ringvorlesung, eine Serie von Policy Papers und eine Teilnahme an der nächsten Scientifica.

www.initiative-geisteswissenschaften.uzh.ch

Weiterführende Informationen

Tatiana Crivelli

«Diversität ist unsere Stärke: Sie gibt uns die Mittel, Komplexität zu verstehen.»

Tatiana Crivelli, Professorin für Italienische Literaturwissenschaft

 

Bild: Frank Brüderli

Inga Mai Groote

«Gerade die Möglichkeit, Dinge anders zu denken, zeichnet die Geisteswissenschaften aus.»

Inga Mai Groote, Professorin für Musikwissenschaft

 

Bild: Frank Brüderli

Andreas Thier

«Die Geisteswissenschaften schaffen die Voraussetzung für Freiheit.»

Andreas Thier, Professor für Rechtsgeschichte, Kirchenrecht, Rechtstheorie und Privatrecht

 

Bild: Frank Brüderli