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UZH Journal

«Die Doktoratsstufe wandelt sich»

Michael Schaepmann und Claudine Leysinger im Gespräch.

Der Graduate Campus (GRC) hat einen Leitfaden für das Doktorat zusammengestellt. Claudine Leysinger, Geschäftsführerin des GRC, und Michael Schaepman, Prorektor Forschung, diskutieren die Empfehlungen. Sie betonen die Verantwortung der UZH für ihre Nachwuchsforschenden und das wichtigste Prinzip: eine Betreuungskultur, die den Bedürfnissen der Doktorierenden und Betreuenden gleichermassen gerecht wird. 

Gesprächsführung: Stefan Stöcklin

Zunächst ein kurzer Rückblick auf die eigene Promotion: Wie haben Sie die Doktoratszeit erlebt?

Claudine Leysinger: Ich habe in den USA promoviert und durchlief ein zweistufiges Aufnahmeverfahren. Von Beginn an war ich in einer Gruppe integriert und absolvierte methodologische Kurse. Für die Betreuung meiner Arbeit – Thema war ein Expeditionsfotograf im 19. Jahrhundert in Mexiko – konnte ich auf verschiedene Professoren zurückgreifen und erhielt immer Feedback, wenn ich das wünschte. Ich habe gute Erinnerungen an die Betreuung und Begleitung.

Michael Schaepman: Ich habe an der Universität Zürich doktoriert, unmittelbar anschliessend an den Master. Es ging um neue Verfahren in der Spektroskopie zur Umweltbeobachtung. Das Doktorat war mit einer Assistenzstelle verknüpft und liess mir viel Freiraum. Das kam mir entgegen, bedeutete aber auch viel Selbstverantwortung. Für mich hat das sehr gut gestimmt.

Die Doktoratsstufe ist in aller Munde, problematische Fälle anderer Hochschulen sind ein öffentliches Thema. Nun hat der Graduate Campus (GRC) Empfehlungen in einem Best-Practice-Leitfaden zusammengestellt. Ist diese Koinzidenz zufällig?

Leysinger: Ja, das ist ein Zufall. Der Anstoss für den Leitfaden kam vor zwei Jahren von unserer Direktorin Ulrike Müller-Böker; die Qualitätssicherung der Doktoratsstufe ist ein prioritäres Anliegen. Unsere Arbeit begann Mitte 2017, seit Kurzem liegt das fertige Dokument vor (siehe Box).

Schaepman: Ich möchte etwas Grundsätzliches festhalten: Auch wenn jetzt Konfliktfälle mit Doktorierenden in den Medien debattiert werden, sollte man die Proportionen wahren. Sicher, wir nehmen solche Fälle sehr ernst, und man darf die Dinge keinesfalls schönreden. Aber angesichts der speziellen Situation von Doktorierenden, die sich von den meisten anderen Arbeitsverhältnissen unterscheidet, ist die Zahl der Konfliktfälle klein. Denn man muss sehen: Es besteht immer ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Doktorierenden und ihren Professorinnen und Professoren und damit Potenzial für Konflikte. Hinzu kommen Umwälzungen in der Gesellschaft. Die Hochschulen mit ihren Traditionen sind gefordert, sich diesen Prozessen anzupassen.

Leysinger: Eine der wichtigsten Veränderungen ist: Wir haben viel mehr Doktorierende als früher. Ihre Zahl hat sich im Verlauf der vergangenen 20 Jahre in etwa verdoppelt, hingegen ist die Zahl der Lehrstühle weniger stark gewachsen. Das erzeugt Druck im System, namentlich mit Blick auf die mangelnden Perspektiven für eine wissenschaftliche Karriere.

Schaepman: Wir sind als Hochschule auf die Doktorierenden angewiesen und haben eine Verpflichtung, für ihren Werdegang Sorge zu tragen. Mit den Best Practices liegt eine Sammlung von Empfehlungen und Massnahmen vor, die stark auf den bisherigen Erfahrungen der UZH basiert; sie sollen die Qualität der Doktoratsstufe sichern und eine adäquate Behandlung garantieren. Sie lassen den Fakultäten genug Raum zur Berücksichtigung ihrer Besonderheiten.

Ich möchte auf drei wichtige Bereiche eingehen: Die Rekrutierung, Betreuung und Karriereplanung. Wie gelingt die Wahl der geeignetsten Kandidatinnen und Kandidaten am besten?

Leysinger: Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass im Auswahlverfahren mehrere Leute entscheiden und nicht eine einzelne Person. Bewährt hat sich ein strukturiertes Verfahren. Die Fakultäten handhaben das unterschiedlich. In manchen Doktoratsprogrammen, zum Beispiel bei MNF oder WWF, kommt ein hochprofessionelles Verfahren zur Anwendung. Bei kleineren Lehrstühlen anderer Fakultäten ist dies nicht immer der Fall. Aber auch dort ist es wichtig, dass Dritte beigezogen werden.

Schaepman: Die Herausforderung ist, nach einem einstündigen Interview zu entscheiden, ob die Kandidatinnen und Kandidaten den Herausforderungen einer mehrjährigen Promotionsarbeit gewachsen sind. Ebenso verpflichten sich die Betreuenden in derselben kurzen Entscheidungszeit, die Doktorierenden künftig durch alle Höhen und Tiefen zu begleiten. Die Herausforderungen sind also symmetrisch auf beide Seiten verteilt und beinhalten eine gewisse Unsicherheit. Letztlich erfolgt der individuelle Entscheid immer auch auf der «Bauchebene», und es ist wichtig, diesen Schritt auf mehrere Köpfe zu verteilen.

Worauf kommt es an?

Leysinger: Nebst der wissenschaftlichen Qualifikation gilt es zu klären, ob die Person den nötigen Durchhaltewillen und die Frustrationstoleranz besitzt, die für eine Doktorarbeit nötig sind. Häufig folgt auf eine enthusiastische Anfangsphase eine Zeit der Ernüchterung und Frustration, wenn die Arbeit nicht wie gewünscht verläuft oder Experimente schiefgehen. Man muss also einschätzen, ob die Person längere Durststrecken meistern kann. Denn es dient weder der Person noch der Universität, wenn jemand scheitert.

Wie viele Doktorierende brechen ab?

Leysinger: Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, es gibt von Fakultät zu Fakultät unterschiedliche Zahlen. In der Kohorte, die 2013 ihr Doktorat begonnen hat, bewegt sich die Abbruchquote im Schnitt um elf Prozent.

Schaepman: Die Abbruchquote ist generell klein, weil die Doktorierenden hochmotiviert sind und erfolgreich abschliessen wollen. Sie haben sich ja statt für einen Job in der Industrie oder der Verwaltung, wo sie besser entlohnt würden, für den akademischen Weg entschieden. Ich habe in Holland zeitweise in einem Hochschulumfeld gearbeitet, wo die Doktorierenden – anders als in der Schweiz – nahezu ein Marktsalär erhalten. Die Abbruchquote der Doktorierenden war mit über 30 Prozent deutlich höher als bei uns.

Zum Thema Betreuung: Doktorierende befinden sich in einem mehrfachen Abhängigkeitsverhältnis: Ihre Professorinnen und Professoren sind Vorgesetzte, Supervisor, Bewerter. Zur Entschärfung wird empfohlen, die Betreuung und die Beurteilung einer Dissertation personell zu trennen. Ist das die Lösung?

Leysinger: Es lassen sich natürlich nicht alle Probleme auf diese Weise lösen, aber unser Vorschlag ist anerkannt. Zur Qualitätssicherung muss mindestens eine externe Person in die Begutachtung involviert sein. In der Philosophischen Fakultät können die Promovierenden zum Beispiel selbst entscheiden, ob alle Mitglieder der Betreuungskommission auch in der Promotionskommission sein sollen, die die Begutachtung und Bewertung der Dissertation vornimmt – wobei grundsätzlich auch eine Person von aussen beigezogen werden muss. Im Falle eines Konflikts macht eine Trennung zwischen Betreuung und Bewertung Sinn. Es kann bei der Bewertung aber auch hilfreich sein, die Hintergründe und Geschichte der Dissertation zu kennen und die Kommissionen nicht zu wechseln. Die Doktorierenden können nun selbst darüber entscheiden.

Schaepman: Es ist wichtig zu sehen, dass das Spannungsfeld zwischen Doktorierenden und ihren Professorinnen und Professoren in der Natur der Sache liegt und sich kaum auflösen lässt. Einerseits kommen ja die Idee und das Geld für die Arbeit meist nicht vom Doktorierenden, sondern vom Doktorvater oder der Doktormutter. Andererseits sollen die Doktorierenden ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit beweisen und eine selbständige Arbeit verfassen. Diese Spannung kann vermindert werden, indem man Betreuung und Beurteilung bis zu einem gewissen Grad separiert.

Die Doktorierenden befinden sich in einer Situation, die zwischen Unterordnung und Emanzipierung schwankt?

Schaepman: Genau, es besteht ein Ungleichgewicht, weil die wissenschaftliche Fragestellung in den Naturwissenschaften oft nicht nur vom Ausführenden stammt. In dieser Situation ist es in jedem Fall wichtig, dass die Doktorierenden Gelegenheit haben, sich auch bei Dritten zur Arbeit oder Betreuung zu äussern, ohne dass dies Konsequenzen für sie hat.

Leysinger: Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften ist die Situation schon etwas anders als in den Naturwissenschaften. Da beschäftigt man sich in der Regel mit seinen eigenen Ideen und ist sein eigener Chef. Die Gefahr ist eher, dass man zu stark für sich allein arbeitet und die Betreuenden zu selten sieht. Deswegen schlagen wir ja regelmässige Gespräche und Evaluationen vor. Die Graduiertenschule der Philosophischen Fakultät, die Anfang 2019 die Tätigkeit aufgenommen hat, stellt diesen Austausch sicher.

Schaepman: Ich denke, die UZH ist bezüglich Graduate Schools gut aufgestellt. Es gibt mehrere davon, die grösste ist die Life Science Zurich Graduate School. In Konfliktsituationen können Doktorierende vertraulich mit der Kommission, unter Abwesenheit des Betreuers, sprechen.

Ist es denn angesichts der Spezialisierung in den Wissenschaften heute überhaupt möglich, dass Aussenstehende eine ­Doktorarbeit fachlich richtig beurteilen können?

Schaepman: Ja, geht es doch primär um die Klärung, inwieweit die Arbeit nach gängigen wissenschaftlichen Standards durchgeführt wurde und ob die Ergebnisse verteidigt werden können. Dazu gibt es in allen Bereichen externe Fachleute. Problematischer ist die Konkurrenzsituation, weil wir aussenstehenden Personen unsere wissenschaftlichen Ideen zeigen. Der Entscheid, Dritten Einsicht zu gewähren, birgt immer ein gewisses Risiko.

Mit der Promotion sollen die Leute Gewissheit darüber erlangen, ob sie für den akademischen Weg geeignet sind oder eine Karriere ausserhalb der Akademie anstreben sollten. Wie kann man Doktorierende zu dieser Selbsterkenntnis bringen?

Leysinger: Über die Hälfte der Doktorierenden wählt nach Abschluss der Promotion eine ausserakademische Laufbahn. Nicht nur, weil sie nicht fähig wären, sondern weil schlicht die Stellen fehlen. Darum ist es wichtig, sie frühzeitig zu informieren und sie auf diesem Weg zu begleiten. Der Graduate Campus, aber auch andere Stellen wie die Career Services oder die UZH Alumni, bieten zu diesem Thema Weiterbildung und Hilfestellung an. Unsere Kurse für überfachliche Kompetenzen werden sehr stark nachgefragt. Da könnte man noch mehr machen.

In welcher Hinsicht? Etwa mehr Kurse anbieten?

Leysinger: Ja, wir müssen den Leuten noch besser aufzeigen, was für Chancen und Möglichkeiten es ausserhalb der Universität gibt. Ich denke zum Beispiel an ein Projekt aus Holland, mit Einsätzen von Doktorierenden in Firmen. Wir planen am GRC auch den Ausbau der Beratung in Form von kleinen Coaching-Sessions zur Standortbestimmung für Doktorierende. Das steckt aber noch in den Anfängen. 

Schaepman: Ich unterstütze die Aktivitäten des Graduate Campus voll und ganz. Die überfachlichen Kurse und Weiterbildungsangebote für Doktorierende sind sehr wertvoll. Sie unterstützen die Doktorierenden in ihrer Entscheidungsfindung, sei es im Hinblick auf eine akademische Karriere oder einen Berufsweg ausserhalb der Hochschule.

Die Umsetzung der Empfehlungen des Leitfadens verursachen auch Kosten. Hat die UZH die dafür nötigen Mittel?

Schaepman: Es geht bei der Betreuung von Doktorierenden weniger um eine Frage der finanziellen Mittel. Wir müssen die Leute überzeugen, unsere Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, und möchten gemeinsam eine Betreuungskultur entwickeln, die allen Bedürfnissen gerecht wird. Die Universität ist für die Nachwuchsförderung verantwortlich und plant die Mittel ein.

Leysinger: Ich sehe das auch so. Wir möchten, dass sowohl die Betreuerinnen und Betreuer als auch die Doktorierenden über ihre Rolle reflektieren. Der Leitfaden ist für sie auch eine Handhabe, um Standards einzufordern. Der Kulturwandel betrifft beide Seiten; es sind immer beide involviert.

Beim neuen Leitfaden handelt es sich um Empfehlungen. Reicht das?

Schaepman: Man kann sich fragen, ob wir mit Handlungsempfehlungen genug Druck aufsetzen. Ich würde das bejahen. Der Leitfaden trägt auch unserer Diversität Rechnung. Die Universität ist breit aufgestellt mit ihren verschiedenen Fachdisziplinen, das erfordert unterschiedliche Herangehensweisen. Wir können nicht alle Doktorierenden über den gleichen Kamm scheren.

Warum hat man den Leitfaden nicht für verbindlich erklärt?

Leysinger: Es entspricht einfach nicht unserer Kultur, von oben herab Richtlinien vorzuschreiben. Es gibt an der UZH sieben Fakultäten mit unterschiedlichen Kulturen und Gepflogenheiten. Jede hat ihre Promotionsverordnung und Doktoratsvereinbarungen. Diese Vielfalt muss unbedingt bestehen bleiben.

Schaepman: Wir legen viel Wert auf akademische Selbstverantwortung. Wenn wir von der Universitätsleitung her für alle Fakultäten Vorschriften machen würden, käme das schlecht an. Die Professionalisierung der Betreuung muss von innen heraus kommen.

Die Gesprächspartner:

Claudine Leysinger, Leiterin UZH Graduate Campus

Michael Schaepman, Prorektor Forschung und Professor für Fernerkundung am Geografischen Institut

Empfehlungen für ein erfolgreiches Doktorat

Der «Best-Practice-Leitfaden für die Doktoratsstufe» stellt auf 20 Seiten Empfehlungen zusammen, um Qualität, Attraktivität und Internationalisierung des Doktorats an der Universität Zürich zu sichern und zu stärken. Gegliedert in acht Themenbereiche, postulieren die Empfehlungen des Graduate Campus eine Reihe von Prinzipien, die in verschiedenen Stadien eines Doktorats zu beachten sind. Sie behandeln die Rekrutierung und Betreuung, die Doktoratsvereinbarung und Doktoratsprogramme, die Qualitätskultur und Beurteilung sowie die Finanzierung und Karriereförderung. Zu jedem Thema werden Kriterien aufgelistet, die es zu beachten gilt. Für die Betreuung werden beispielsweise Betreuungsteams empfohlen, die aus mindestens zwei Mitgliedern mit Promotionsrecht der jeweiligen Fakultät bestehen. Die Empfehlungen basieren auf den Erfahrungen der Doktoratsprogramme an der UZH, verschiedenen Policy Papers und dem Erfahrungsaustausch bei internationalen Hochschultreffen. Sie sind breit gefasst und lassen den Fakultäten Raum, bei der Umsetzung Besonderheiten zu berücksichtigen.

https://www.grc.uzh.ch/de/phd-postdoc/Best-Practice-Leitfaden.html

Weiterführende Informationen

Claudine Leysinger

«Die Trennung zwischen Betreuung und Bewertung macht im Konfliktfall Sinn.»

Claudine Leysinger, Geschäftsführerin Graduate Campus

Michael Schaepman

«Es gibt ein Spannungsfeld zwischen Doktorierenden und Betreuenden»

Michael Schaepman, Prorektor Forschung und Professor für Fernerkundung