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UZH Journal

Pendler zwischen Ethik und Technik

Markus Christen

Es brauche dringend eine gesellschaftliche Debatte zur Digitalisierung, sagt der Ethiker Markus Christen.

Von Stefan Stöcklin

Markus Christen hat nicht einen, sondern vier Arbeitsplätze: Der eine befindet sich im Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME), der zweite am aktuellen Sitz der Geschäftsstelle der Digital Society Initiative (DSI) – und der dritte im Speise-wagen des Intercity Zürich-Biel. Mit seiner Familie hat sich der Ethiker bei Biel niedergelassen, wo er viertens ein Home-Office eingerichtet hat. Vom Wohnortpendelt er wöchentlich an drei bis vier Tagen nach Zürich; die Fahrzeit im Zug nutzt er zur Bearbeitung seiner zahlreichen Projekte. «Die mobile Arbeitsweise gefällt mir, im Zug kann ich gut arbeiten», sagt der gebürtige Bieler, der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt. 

Die verschiedenen Arbeitsorte lassen erahnen, was Christen als Wissenschaftler umtreibt: die Digitalisierung und die Fragen der Ethik. Zum Gespräch mit dem «UZH Journal» wählt er den Geschäftssitz der DSI im ersten Stock einer altehrwürdigen Villa an der Rämistrasse, wo er ein Büro mit den DSI-Mitarbeiterinnen teilt. Christen beschreibt sich selbst als akademischen Grenzgänger zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Schon in der Schule interessierten ihn die exakten Naturwissenschaften wie auch philosophische Fragen, und als er sich 1989 an der Universität Bern zum Studium einschrieb, belegte er einerseits Philosophie und andererseits Mathematik, Physik und Biologie.

Vom Journalismus in die Akademie

Der Kombination von Geistes- und Naturwissenschaften ist er treu geblieben, mal schlug das Pendel stärker in die eine, mal eher in die andere Richtung. Unterdessen hat er zum Thema Bioethik und Technologie habilitiert. Seine Forschungsgruppe am IBME trägt den Titel Neuro-Ethics-Technology Research Group. «Ich bin, akademisch betrachtet, ein bunter Hund», sagt Christen mit einem Schuss Selbstironie und einem leisen Lächeln.

Ziemlich bunt und aussergewöhnlich ist in der Tat der Werdegang des 49-Jährigen. Nach dem Studium wechselte er zunächst in den Journalismus. Als Wissenschaftsjournalist für verschiedene Medien und Redaktor beim «Bieler Tagblatt» erlernte er das Handwerk, komplizierte Inhalte allgemeinverständlich aufzubereiten. «Mein Anliegen war die Vermittlung wissenschaftlicher Themen für ein breiteres Publikum», sagt er. Als Projekt­manager einer PR-Agentur in Bern konnte er (Wahl-)Kampagnen und Projekte strategisch planen. Damals gründete er zusammen mit Kollegen das philosophische Atelier Pantaris und lancierte die Bieler Philo­sophietage, die noch heute bestehen.

Das Interesse an der Wissenschaft war dann aber stärker als das am Journalismus, und Christen wandte sich wieder der Akademie zu. Nach der Jahrtausendwende begann er an der ETH Zürich mit einer Dissertation im Bereich der Neuroinformatik – auch diese Arbeit enthält sowohl einen naturwissenschaftlichen Teil zum Problem der neuro­nalen Informationsverarbeitung als auch einen historischen beziehungsweise geistes-wissenschaftlichen zu den Ursprüngen der Gehirn-Computer-Analogie.

Danach konzentrierte er sich auf ethische und moralische Fragen rund um neue medizinische Techniken, die er empirisch anging. Zum Beispiel zur Tiefenhirnstimu­lation (THS), bei der Elektroden im Gehirn implantiert werden, um Symptome mit elektrischer Stimulation zu behandeln. Wie Erfahrungen von Patienten zeigen, kann die THS zu Persönlichkeitsveränderungen führen, die Christen in seinen Projekten untersucht hat. «Die Digitalisierung ist primär kein technisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Sie hat tiefgreifende ethische und moralische Folgen», sagt Markus Christen. Nirgendwo werden diese Fragen offensichtlicher als bei autonomen Waffensystemen, die dereinst darüber entscheiden könnten, ob sie Menschen töten oder nicht. Kann der Mensch die moralische Verantwortung über Leben an technische Systeme abgeben, die er konstruiert hat? Fragen dieser Art gelten in abgeschwächter Form für Roboter jeglicher Art. «Wir brauchen dringend eine Debatte über das Zusammenspiel von Menschen und autonomer Technik.»

Zwei Seelen

Es sind diese Fragen zur Digitalisierung und Ethik, die den Naturwissenschaftler antreiben. Als Forschungsgruppenleiter am IBME betreut Christen zusammen mit seinem Team eine ganze Reihe von Forschungsprojekten, zum Beispiel die Entwicklung von moralischen Videospielen (Serious Moral Games) in Zusammenarbeit mit Carmen Tanner und weiteren Spezialisten. In diesen Videos üben die Spielerinnen und Spieler moralisches Verhalten anhand praktischer Fragen. Zurzeit sind Lernspiele für die Ethikausbildung von Medizinstudierenden und Führungskräften in Arbeit. Wenn der «Technologieethiker», als den er sich selbst bezeichnet, von seinen Projekten erzählt, ist er die Ruhe und Reflektiertheit in Person. In Jeans und Polohemd sitzt er da, blenden könnte er – falls er wollte – mit seinem Intellekt, Äusserlichkeiten interessieren ihn weniger.

Wenn der Eindruck nicht täuscht, sitzt er als Geschäftsführer der DSI, die den gesellschaftlichen Fragen der Digitalisierung nachgeht und interdisziplinär angelegt ist, genau am richtigen Ort. Die beiden Seelen, die sich in seiner Brust befinden, bilden auch die Pole, zwischen denen sich die DSI bewegt.

Weiterführende Informationen

«Die Digitalisierung ist primär kein technisches Problem, sondern ein gesellschaftliches. Sie hat tiefgreifende ethische und moralische Folgen.»

Markus Christen, Geschäftsführer Digital Society Initiative, DSI

Im Bild

Markus Christen an seinem mobilen Arbeitsplatz.
Bild: Frank Brüderli